Der vergessene Weihnachtsengel

 Eine Weihnachtsgeschichte für den Autoren-Adventskalender 2023.



An Weihnachten zog stets eine tiefe Nostalgie in ihren Kopf ein – ein Sehnen nach all den Dingen, die mit dem Alter langsam ihren Glanz verloren hatten. Die Tannenbäume dufteten nicht mehr so intensiv wie früher, und die Weihnachtszeit hatte schon lange ihren ursprünglichen Zauber von geheimnisvollen Paketen, die im Haus versteckt wurden, leise klingelnden Glöckchen inmitten der Nacht und winterweißen Häusern, die aussahen, als hätte man sie mit Zuckerguss übergossen, verloren.

Manche Dinge änderten sich allerdings nie. Seit jeher eröffnete Anfang November der Weihnachtsmarkt hoch oben im fünften Stock des großen Möbelhauses. Und seit jeher besuchte sie diesen Weihnachtsmarkt wenigstens ein einziges Mal in der Vorweihnachtszeit. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie mit strahlenden Augen dem Puppentheater, welches inmitten von Lichterketten, Plastik-Weihnachtstannen, Millionen von Kerzen und Krippenfiguren angesiedelt war, gelauscht hatte, und wie sie vor Schreck beinahe von der Bank gefallen war, als der Teufel aus einer Rauchwolke erschien, um das Kasperle zu jagen.

An einem Donnerstag Nachmittag waren die Vorhänge des Puppentheaters zugezogen, und die Holzbänke davor verlassen. Eine eigenartige Stille lag über dem gesamten Markt, da nur wenige Menschen durch die Gänge streiften und scheinbar wahllos Gegenstände in ihre Einkaufswägen und Körbe legten. Sie spürte bereits, wie sich die Glitzerpartikel nicht nur in der Wolle ihres dunklen Mantels verfingen, sondern auch an ihren Fingerspitzen kleben blieben, während sie sich die neuesten Trends der Weihnachtssaison vor Augen führte.

Früher, dachte sie, hatten die Engelsfiguren noch schönere Gesichter gehabt. Früher gab es auch keine Zebras, Alpakas oder Einhörner, die man sich an den Weihnachtsbaum hängen konnte. Ihre Liebe galt den Karussellpferden und den Spieluhren, und vor allem den Nussknackern in allen Formen, Farben und Größen.

Früher war mehr Lametta – und das stimmte auch. Man sparte schließlich Plastik, und Aluminium, und all die quietschbunten Materialien, die den Weihnachtsbaum zwar strahlen ließen, die Umwelt aber ruinierten.

Im hintersten Winkel des Weihnachtsmarkts fand sie die Szenerie, die Weihnachten in ihrer Kindheit perfekt widerspiegelte: Die alten Engelspuppen, die Jahr für Jahr im Eingangsbereich des Möbelhauses gestanden hatten. Eine hell beleuchtete Stadtsilhouette in weiß und hellblau im Hintergrund, und dafür kleine, animierte Engel: mal mit elfengleichen, glatten Haaren, mal wild gelockt. Engel, die ihre leblosen Köpfe neigten und dabei fleißig in der Weihnachtsbäckerei schufteten. Teig wurde ausgerollt und genascht, Zutaten verrührt und Bleche voller Plätzchen in den Ofen mit der künstliche Flamme geschoben. Sie erinnerte sich sogar an diesen seltsamen Duft von Staub, Farbe und Vanille, der immer von der Szene ausgegangen war. Und da waren die Geräusche der kleinen Motoren und metallenen Gelenke, gut versteckt unter Stoff, Plastik und anderen Materialien. 

Mal war sie den Puppen mit Angst begegnet, mal mit Bewunderung – und doch hatte sie sich jedes Jahr darauf gefreut, sie wiederzusehen.

Doch auch an den Puppen hatte der Zahn der Zeit genagt, und vorwitzige Hände hatten sich an den Figuren zu schaffen gemacht. Die mit Glitzerfäden durchwirkten Haare saßen schief auf den Köpfen oder lagen gar am Boden, das Haupt des Teigrühr-Engels kahl. Die Gesichter waren verblasst, und einzelne Gliedmaße fehlten. Das Backwerk war zertrümmert, und der Schneebesen fehlte in der Hand des Engels.

Vielleicht interessierten sich die Kinder von heute nicht mehr für backende Engelspuppen und Kasperle, die dem Teufel ein Schnippchen schlagen, dachte sie sich und schob ihre kalten Hände in die Taschen ihres Mantels.


Da hörte sie plötzlich ein Klingeln.


Es war ein vertrautes Geräusch – eines, dass sie direkt in das Kinderzimmer ihrer ersten neun Lebensjahre zurück versetzte. Ein Zimmer in einem Haus, welches schon lange nicht mehr stand. Dieses verheißungsvolle, leise Klingeln eines Glöckchens, das nicht jeder vernehmen konnte. Sie runzelte die Stirn – umso mehr, als das Klingeln erneut auftrat.

Hinter einem Kerzenregal, das eine Vielzahl von Düften ausstrahlte, blickten sie zwei große, blaue Augen verschreckt an. Dort, auf dem Boden, saß ein Wesen, das perfekt in die Weihnachtsbäckerei der Engel gepasst hätte: Die Gestalt trug ein langes, mit silbernen Stickereien abgesetztes Gewand und hatte welliges weißes Haar, welches ihr in die Stirn und über die Schultern fiel.

Hatte das Möbelhaus nun kostümierte Mitarbeiter angestellt, um Leben in den Weihnachtsmarkt zu bringen?

„Pssst!“ machte die Gestalt – Sekunden bevor sie nieste und dabei eine Wolke aus Glitzer ausstieß. Erst da bemerkte sie die großen, weißen Flügel, die sich hinter der Person ausstreckten – die Federn ein wenig zerzaust, die Spitzen der Flügel herabhängend.

„Ist alles in Ordnung? Sind Sie gefallen?“ fragte sie vorsichtig, und streckte ihre Hand aus. Doch die Gestalt ergriff diese nicht und starrte sie nur an, bevor sie langsam blinzelte. Ihre Wimpern waren so hell, dass sie kaum zu sehen waren.
„Hast du andere wie mich gesehen?“
„Andere?“ Sie runzelte die Stirn.
„Andere Engel!“

Wenn dies ein Theaterstück sein sollte, war ein Donnerstag definitiv nicht der richtige Zeitpunkt, um es aufzuführen.

„Ich... nein? Arbeiten Sie hier?“
Erneut ignorierte die Gestalt die Frage und ließ die Schultern hängen – eine Bewegung, die auch die mächtigen Schwingen wie die Ohren eines traurigen Hundes herabhängen ließ.
„Dann haben sie es wirklich getan“, murmelte der Engel.
„Wer? Was getan? Hören Sie, vielleicht brauen Sie etwas Wasser?“

Die junge Frau blickte ratlos auf den verwirrten Engel, der nach wie vor auf dem staub- und glitzerbedeckten Boden saß und immer trauriger zu werden schien.

„Sie haben mich ausgesetzt! Ich bin ein schlechter Weihnachtsengel!“ Der Engel blickte auf, und eine einzelne, glänzende Träne rann über die bleiche Wange.


Dann wurde ihr schwarz vor Augen.


Sie griff ins Leere und versuchte, sich an dem Kerzenregal festzuhalten. Doch als sie die Augen wieder öffnete, blickten zwei Mitarbeiterinnen des Möbelhauses in ihren dunkelblauen Westen auf sie herab.

„Da haben Sie uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt! Geht es Ihnen gut?“

Verwirrt blickte sie sich um. Ganz in der Nähe lagen einige zerbrochene Weihnachtskugeln, und dahinter konnte sie das Kerzenregal sehen.

„Der Engel...?“
„Na, einen Schutzengel hatten Sie sicher“, lachte die ältere Verkäuferin, und tätschelte dabei ihre Schulter.
„Nein, der Engel hinter dem Regal?“

„Da ist niemand, meine Liebe. Sie haben sich vielleicht den Kopf gestoßen? Kommen Sie, Sie bekommen einen Kaffee aufs Haus.“

Ein wenig willenlos ließ sie sich auf die Beine ziehen. Die Verkäuferin mit den freundlichen brauen Augen hakte sich bei ihr unter, um sie in das Restaurant des Möbelhauses auf der gleichen Etage zu bringen.


Und doch, als sie sich umdrehte, sah sie, wie ein paar großer, weißer Schwingen hinter dem Vorhang des Puppentheaters verschwanden...


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