Sonnenfest am Rauschberg

 


Bayern, am Rauschberg, März 1831

Frau Kaisers Finger flochten emsig die Reisig-Zweige, die Theo ihr gebracht hatte. Sie saß vor der Hütte am Berggipfel, und ihr dunkles Haar glühte in der Pracht der schwachen Frühjahrssonne, die hier oben so viel stärker schien als unten im Dorf. Eine sanfte Brise bliess durch die umliegenden Tannen, während die Tierstimmen des Waldes sich immer wieder über die sonst so friedliche Stille am Rauschberg erhoben. Elisabeth Kaiser summte vor sich hin, während der Kranz in ihren Händen langsam Gestalt annahm. In einem kleinen Korb zu ihren Füßen lagen Schleifenbänder, getrocknete Blumen und einige frische Kräuter, die sie dem Kranz später hinzufügen wollte. Daneben ruhten kleinere, bereits vollendete Kränze. Diese würde sie später an ihren Mann, ihren Sohn, und ihren Gast verteilen.

Die Tages-und-Nachtgleiche war ein Feiertag, den sie hier oben am Berg mit der gleichen Ernsthaftigkeit wie die Rauhnächte beginnen. Bereits in den Tagen zuvor hatten die Feuer zur Feier von Laetare ebenso wie die brennenden Feuerräder die Nacht und die Berge rund um das Dorf erleuchtet. Doch während man sich unten im Dorf auf die Osterfeiertage vorbereitete, gingen hier anderen Sitten vonstatten.


Florian war erst am gestrigen Tag zum Rauschberg hinauf gelaufen. Der Glockenklang der Dorfkirche hing ihm noch in den Ohren, denn ebendieser hatte ihn an Laetare aus dem Bett gerüttelt. Es hatte seine Vor- und Nachteile, so nah an der Kirche zu leben. Sein Arbeitsplatz, die Dorfbibliothek, befand sich zwar direkt darunter, aber laut war es doch an den hohen Feiertagen, die man im Dorf auch gerne mit Blasmusik und viel Tamtam beging.

Im Vergleich dazu war es am Rauschberg fast schon still. Hier sang ein Vogel, dort keckerte ein Tier, was Florian nicht zuordnen konnte. Und als er es beinahe an den Gipfel geschafft hatte, fand er Theo bereits auf einem Baumstamm sitzend vor, einen jungen Hasen auf dem Schoss und weiße Blütenblätter, die fröhlich von einem Baum in der Nähe herabregneten, im Haar.

Theo Kaiser hatte in diesem Moment jede Ähnlichkeit mit einem jungen Gott. Seine Hosen waren bereits kurz, obwohl es doch noch recht kühl war. Er trug nur ein leichtes Leinenhemd, dessen Schnürung am Kragen sich gelöst hatte. Und ausnahmsweise war sein schulterlanges, dunkles Haar offen und nicht streng zusammengebunden.

Florian wurde niemals müde daran, seinen Freund anzusehen. Für einen Moment blieb er stehen und bewunderte den jungen Mann, ehe er sich besann und zügig weiter lief.

„Hast du mich schon erwartet?“ fragte er keck, als hätte er nicht gerade noch wie ein Hirsch im Blitzlicht dort gestanden.

„Sieht so aus. Schau, sie ist trächtig“, erwiderte Theo und hielt Florian sogleich den Hasen – Verzeihung, die Häsin – entgegen.

„Oh.“

Etwas überrascht nahm Florian das Tier entgegen und hielt sie vorsichtig im Arm, während Theo aufstand und sich die Blüten aus dem Haar schüttelte.

„Komm. Mutter hat Kuchen gebacken.“


Im März-Sonnenschein aßen sie später Kuchen vor der Hütte, ehe die Häsin freigelassen wurde und Frau Kaiser Florian und Theo je einen der kleinen Kränze reichte.

„Vorsichtig, ich habe Brennnesseln hineingeflochten“, warnte sie ihren jungen Gast. Brennnessel, Bärlauch und Veilchen. Der große Kranz, an dem sie zuvor gearbeitet hatte, hing nun an der Eingangstür der Hütte.

„Du weißt, was zu tun ist“, sagte sie und blickte Theo an, der nur nickte. Er hatte die alten Bräuche früh von seiner Mutter erlernt.


Bei Einbruch der Dunkelheit führte er Florian fort von der Hütte und hinein in den Wald. Nur eine kleine Laterne leuchtete ihnen den Weg. Florian erinnerte sich an die letzte Rauhnacht, in der sie der Bärin im Wald begegnet waren. Im Vergleich dazu war es jetzt noch hell genug, um zumindest den Weg zu sehen.

„Wohin gehen wir?“

„Zur Quelle.“

Florian konnte sich bei seinem letzten Besuch an keine Quelle erinnern, doch der Berg und sein Umfeld waren im Dezember auch von einer dicken Schneeschicht bedeckt gewesen. Er folgte seinem Freund nur stumm, so, wie er es meist tat. Die Tages-und-Nachtgleiche war ihm ein Begriff aus seinen Büchern, denn schon die Germanen und Kelten hatten dieses Sonnenfest auf ihre Art gefeiert. Er konnte es kaum abwarten, wieder einen neuen, altertümlichen Brauch kennenzulernen.

Tatsächlich entsprang eine kleine Quelle am Berg. Der Wasserlauf war sehr schmal, doch das Gras wuchs hier prächtig und wiegte sich im Wind, als Theo sich niederkniete. Florian folgte seinem Beispiel, den kleinen Kranz fest umklammert.

„Schließ die Augen“, instruierte Theo. „Dann wünsch dir etwas. Denk ganz fest daran. Und jetzt lass los.“

Florian schloss die Augen. Er dachte an Theos Familie, die ihn so liebevoll aufgenommen hatte. Er dachte an das Dorf und die Bibliothek – und er dachte an Theo, dessen Wärme er neben sich spüren konnte. Der junge Mann wünschte sich, dass es immer so weiterging. Ein endloser Frühling ohne Schmerz und Sorgen. Nur er, dieses kleine Leben, und immer wieder Theo.

Langsam ließ er den Kranz in das Wasser gleiten und für einen Moment spürte er den beißenden Schmerz der Brennnessel. Er öffnete die Augen und sah zu, wie Theo seinen Kranz ebenfalls in das Wasser war. Gemeinsam sahen sie zu, wie die Kränze auf der Oberfläche trieben, bis sie an der nächsten Biegung verschwanden.

„Und nun?“ fragte Florian nach einer Weile, ehe er aufstand und sich das Gras von der Hose strich. Er streckte seine Hand aus und half Theo, ebenfalls aufzustehen.

„Nun folgt das Opferfeuer – und dann gibt es Abendbrot.“

Kurz drückte Theo Florians Hand und lächelte. Dann ließ er los und führte sie beide sicher zurück zur Hütte.


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Diese Kurzgeschichte ist exklusiv für das Oster-Special des Autoren-Adventskalenders, erreichbar unter www.autoren-adventskalender.de.






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